„Die Politik muss den Menschen mehr zutrauen“

Ein Interview mit Carsten Linnemann

Ein Interview in der Heidenheimer Zeitung von Ellen Hasenkamp und Igor Steinle vom 16.05.2020 .
Der CDU-Politiker Carsten Linnemann sieht in der Bewältigung der Corona-Krise eine Chance, dass das Land sich neu aufstellt. 

Wir leben in aufgewühlten Zeiten. Carsten Linnemann, einer der stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, fordert von den politischen Entscheidungsträgern deshalb ein Höchstmaß an Transparenz – und sieht bestehende Defizite.

Wie erleben Sie die momentane Situation?

Carsten Linnemann: Ich bekomme unglaublich viele Zuschriften und Anrufe. Arbeitnehmer haben Fragen zum Thema Kurzarbeit, Arbeitgeber rufen wegen der Kredit- und Soforthilfeprogramme an. Gleichzeitig fallen vor allem am Wochenende sehr viele Termine weg. Ich sitze dann zwar noch immer viel am Computer, dennoch bleibt mehr Zeit, um über den Tellerrand zu schauen.

Was sehen Sie dort?

Die Krise bietet auch die Chance, uns von Bürokratie, Regulierung und dem ganzen Ballast zu befreien. Die Sozialpartner scheinen nun offener dafür zu sein. Wir könnten einen Digitalisierungsschub erleben, weil jetzt jeder erkannt haben sollte, wie wichtig diese Technologien sind, und dass da noch einiges im Argen liegt.

Wie bewerten Sie den Vorstoß von Arbeitsminister Heil, ein Recht auf Homeoffice gesetzlich zu verankern?

Dieser Vorschlag ist natürlich Unsinn. Wir sehen doch jetzt, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein gemeinsames Interesse daran haben, Homeoffice dort möglich zu machen, wo es möglich ist. Wir sollten ihnen mehr vertrauen und nicht alles immer wieder regulieren wollen.

Momentan nehmen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen zu, viele Menschen verlieren sich in Verschwörungstheorien. Ist die Gesellschaft gespalten?

Ich erlebe sie als sehr aufgewühlt und auch als offener für Verschwörungstheorien. Allein in dieser Woche habe ich hunderte Mails bekommen, in denen ich aufgefordert werde, gegen eine Zwangsimpfung zu stimmen, die im Bundestag überhaupt kein Thema ist. Es macht mich fassungslos, wie schnell Fake News um sich greifen können. Und ich bin besorgt, dass solche Falschmeldungen inzwischen nicht nur in Kreisen von Verschwörungstheoretikern und demokratiefeindlichen Gruppierungen kursieren, sondern auch unter normalen Bürgern. Da ist Alarmstufe Rot. Als Politiker müssen wir fragen, was wir falsch gemacht haben.

Was könnte das sein?

Die Politik muss den Menschen mehr zutrauen, sie muss ihre Entscheidungen transparent machen und gut begründen. Und vor allem dürfen wir die Debatte nicht scheuen. Dass die offene Exit-Debatte so spät geführt wurde, war meiner Meinung nach ein Fehler. Dadurch erst wurde das Misstrauen gesät, das Verschwörungstheoretikern jetzt in die Hände spielt.

Ist das vergleichbar mit der Situation von 2015?

Den Vergleich mit der Flüchtlingskrise halte ich für verfrüht. Die Lehre aus 2015 muss aber sein, dass man solche Entwicklungen nicht unterschätzen und nicht einfach laufen lassen darf. Die Politik muss sich jetzt damit beschäftigen.

Sollten Konjunkturpakete nachhaltige Technologien fördern?

Ich würde lieber darüber reden, wie wir Deutschland strukturell nach vorne bringen. Wir sehen ja derzeit beispielsweise, woran die Digitalisierung in Deutschland nach wie vor scheitert: Viele Menschen würden gerne Homeoffice machen, haben aber kein schnelles Internet. Schulen sind nicht in der Lage, sich digital zu organisieren, sozial schwache Schüler haben keine technische Ausrüstung. Hier anzusetzen, das wäre die richtige Antwort, und nicht diese alten Zöpfe wie etwa die Abwrackprämie, die mo-
mentan wieder herausgeholt
werden.

Bekommen wir nach der Krise eine Verteilungsdebatte?

Hauptthema der nächsten Bundestagswahl wird sein, wer die Rechnung dieser Krise bezahlt. Ich kann nur davor warnen, den Mittelständlern oder Handwerkern, die es am Ende unter enormen psychischen und finanziellen Belastungen gerade so durch die Krise geschafft haben, dann auch noch eine Vermögensteuer aufzubürden. Das wäre ein schwerer Rucksack, mit dem sie nicht wieder hochkommen würden. Was wir brauchen, ist eine Steuerreform, die die unteren Einkommen entlastet.

Zur Person

Carsten Linnemann (42) meldet sich regelmäßig mit kritischen, manchmal auch provozierenden Beiträgen zu Wort – und das nicht nur zu seinem Herzensthema Wirtschaft. Zuletzt hat er ein Buch mit dem Titel „Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland“ veröffentlicht. Der promovierte Volkswirt sitzt seit 2009 im Bundestag. Seinen Wahlkreis Paderborn hat er dreimal direkt gewonnen. Er ist Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) und einer der Vize-Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag. In der Eurokrise stimmte er gegen die Rettungspakete für Griechenland.